Nijolė Sadūnaitė wurde am 27. August 1974 verhaftet. Bei der Hausdurch­suchung wurde festgestellt, daß zu der Zeit die Nummer 11 der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" (Chronik der LKK) mit der Schreib­maschine abgeschrieben wurde.

In der Voruntersuchung verweigerte N. Sadūnaitė" die Aussage, worauf die Untersuchungsrichter ihr mit einer Einweisung in ein psychiatrisches Kran­kenhaus drohten. Zwei Monate lang wurde es nicht gestattet, ihr Nahrungs­mittel zu übergeben.

Ende Januar 1975 verfaßte N. Sadūnaitė eine Beschwerde an den Staats­anwalt, in der sie gegen die Willkür der Untersuchungsrichter und die Drohungen bezüglich der Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus protestierte.

Im März 1975 richteten die Untersuchungsrichter ein Schreiben an das Psycho-neurologische Krankenhaus in Vilnius, Vasarosstr., und an das Psycho-neurologische Krankenhaus in Naujoji Vilnia (Neu-Wilna) mit der Anfrage, ob N. Sadūnaitė jemals dort behandelt worden sei. Die Antwor­ten waren negativ.

Im April 1975 wurde der Prozeß gegen N. Sadūnaitė aus dem Prozeß Nr. 345 ausgeschlossen und zum separaten Prozeß Nr. 416 erklärt.

Am 16. Juni 1975 eröffnete das Oberste Gericht der Litauischen SSR die Verhandlungen gegen N. Sadūnaitė. Die Gerichtsverhandlung begann um 10 Uhr vormittags. Gerichtsvorsitzender war Kudriasovas, Staatsanwalt war Bakučionis.

Vilnius

An den Generalsekretär des ZK der KP der UdSSR

An das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR

An den Generalstaatsanwalt der UdSSR

An das Präsidium des Obersten Sowjets der Litauischen SSR

An den Staatsanwalt der Litauischen SSR

An die Ordinariate der Diözesen Vilnius, Kaunas, Panevėžys, Telšiai und Kaišiadorys

Erklärung

der Priester der Erzdiözese Vilnius der Litauischen SSR

Die Katholiken Litauens leiden schwer darunter, daß sie religiöse Literatur entbehren müssen. Gewiß, in den Jahren der Sowjetregierung sind folgende Bücher erschienen: Maldaknygė (Gebetbuch) von Kan. J. Stankevičius,Liturginis maldynas (Liturgisches Gebetbuch), Vatikano II susirinkimo nutarimai (Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils), Apeigynas (Zeremo­nienbuch), Naujasis Testamentas (Neues Testament) und Psalmynas(Psal­menbuch). Diese Schriften haben jedoch den Bedarf der Gläubigen nicht ge­deckt, denn sie sind in einer so kleinen Auflage erschienen, daß sie lediglich den Atheisten für Auslandspropaganda nützlich sind, um die „Religionsfrei­heit auch bei uns" vorzutäuschen. So erhielt z. B. die Pfarrgemeinde von Cei-kiniai, die etwa 3000 Seelen zählt, nur zehn Exemplare des „Neuen Testa­ments".

Krinčinas

An den Vorsitzenden des Obersten Präsidiums der Litauischen SSR An den Bischof von Panevėžys, Dr. R. Krikščiünas An den Bevollmächtigten des Rates für religiöse Angelegenheiten, K. Tumėnas

An das Komitee des Staatssicherheitsdienstes Erklärung

des Priesters Balys A. Babrauskas, wohnhaft im Rayon Pasvalys, Krinčinas

Am 15. Juni dieses Jahres (1975) finden die Wahlen für den Obersten Sowjet der UdSSR statt. Die Bürger haben das Recht und die Pflicht, an den Wahlen teilzunehmen. Als Priester der katholischen Kirche bin ich aber des öfteren von den Beamten des Staatssicherheitsdienstes und des Rayons diskriminiert worden, und man behandelt mich so, als ob ich außerhalb der Gesetze stünde. In Verfechtung meiner Rechte und unter Konstatierung der von einigen Be­amten begangenen Gesetzesverstöße habe ich an das Komitee des Staatssicher­heitsdienstes in Vilnius, an den Generalstaatsanwalt der Litauischen SSR und an den Justizminister Eingaben gerichtet, aber keine konkrete Antwort oder Stellungnahme erhalten. Wegen einer ganzen Reihe von Tatbeständen, die ich unten anführe, verweigere ich meine Stimmabgabe als ein Bürger, der keine Rechte, sondern nur Pflichten hat.

Am 20. November 1973 verletzte eine Gruppe von Sicherheitsbeamten unter Führung von Hauptmann Jasinskas bei einer Haussuchung den Artikel 192 des StGB der Litauischen SSR in grober Weise. Dort heißt es: „Alle beschlag­nahmten Gegenstände und Dokumente müssen im Durchsuchungsprotokoll oder in einer beigefügten Beschreibung unter Angabe von Zahl und Maß auf­gezählt werden." Die Beamten vom Sicherheitsdienst haben die beschlag­nahmten Gegenstände weder im Durchsuchungsprotokoll noch in einer bei­gefügten Beschreibung eingetragen.

Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" bringt hier schriftlich verbreitetes Gedankengut, das dem Denken und Empfinden vieler Litauer entspricht.

„30 Jahre sind vergangen seitdem die Kriegsfeuer erloschen sind. Darüber muß man sich freuen, aber ein Litauer hat auch Anlaß zur Trauer. Das Ne-munasland ist wie eine Erbse am Wegrand, die vom Westen und Osten getre­ten wird. Die einen sprachen vom „tausendjährigen Reich", nun reden die anderen vom ewigen. Die braunen „Befreier" planten, „ungeeignete Litauer" am Ural anzusiedeln, die Roten haben noch weitreichendere Pläne: nämlich die Litauer über ganz Sibirien zu zerstreuen. Es ist schwer, in unserem Volk eine Familie zu finden, deren Angehörige nicht „freiwillig" zum Anschauen des weißen Bären hinausgefahren wären ... Die Familien der Verbannten des Jahres 1941 wurden auseinandergerissen — die Männer abgesondert. Die

Ausbeuter der Sklaven des 20. Jahrhunderts haben aus den Verbannten die arbeitsfähigen herausgesucht und mit 400 Gramm Brotration pro Tag ein­gesetzt, die übrigen mußten mit 200 Gramm auskommen... Kleinkinder sterben nicht nur in Afrika, wo Dürre herrscht, sondern auch im Land des kommunistischen Humanismus, in dem Menschen bestimmter Kategorien zu Sklaven gemacht wurden. Die Verbannten aus Litauen bekamen öfters zu hören: „Zum Krepieren hat man euch hierhergebracht!" Und das war kein leeres Gerede: die Gebeine von Kindern litauischer Mütter sind verstreut vom Ural bis Magadan, von den kalten Zonen um Archangelsk, Vorkuta und Norilsk bis zum heißen Kasachstan.

Es bestand der Plan, ein „Litauen ohne Litauer" zu schaffen, denen ein ähn­liches Schicksal zugedacht war wie den Kalmüken, Tataren und anderen klei­nen Völkern, die vertrieben und im Schmelztiegel der „brüderlichen Natio­nen" miteinander vermengt wurden. Welch ein Glück, daß diese „Geschichts­entwicklung" durch Stalins Tod verhindert wurde, der eine gewisse Erleich­terung brachte, denn man verzichtete auf die grobphysische Vernichtung eines Volkes. Nun aber ist man zur moralischen Vernichtung eines Volkes über­gegangen.

Vilnius

Ocikevič Vitalij, ein Urkrainer aus dem Gebiet von Vinica, kam vor drei Jahren nach Vilnius, um die litauische Sprache zu erlernen und sich auf das Priesterseminar in Kaunas vorzubereiten (die Ukrainer haben kein Priester­seminar). Vitalij ministrierte öfters in den Kirchen von St. Nikolaus und St. Theresien bei der hl. Messe. Mehrere Male wurde er vom Sicherheits­dienst verhört. Man bot ihm Agententätigkeit im Sicherheitsdienst an und versprach ihm dafür die Zulassung zum Priesterseminar von Kaunas ohne vorherige Militärdienstzeit. Am 24. März feierte er seinen 18. Geburtstag. Am 14. Mai fand man ihn in seinem Kämmerlein in der Gardinostraße tot auf; sein Gesicht war schwer zusammengeschlagen.

Druskininkai

Am 25. Mai 1975 verkaufte eine Frau an der Kirche von Druskininkai Devo­tionalien. Plötzlich wurde sie von einem Milizmann und seinen Verbin­dungsleuten umzingelt, die sie mit Gewalt festnehmen wollten. Der Frau ge­lang es, sich herauszuwinden und in die Kirche zu flüchten, in der gerade ein Gottesdienst stattfand. Die Angreifer rissen den Korb mit religiösen Ge­genständen an sich und verschwanden damit. Diesen Vorfall beobachtete eine Gruppe von Kurgästen und äußerte über derartiges Rowdytum laut­stark ihren Unwillen. Vom Zugriff des Milizmannes trug die Frau an ihren Händen blaue Flecken davon.

Man verkündet Kultfreiheit, aber die Hersteller von Kultgegenständen werden verfolgt. In dieser Hinsicht genießen die Schwarzbrenner eine grö­ßere Sicherheit, denn zu ihrer Aushebung legt die Miliz keinen solchen Eifer an den Tag wie bei der Jagd auf Verkäufer von Gebetbüchern und Rosen­kränzen.

Vilnius

Am 21. Mai 1975 baten der Direktor der Balys-Dvarionas-Kindermusik-schule, Vytautas Kabelis, und der Parteisekretär der Schule, Jonas Urba, die Musiklehrerin Aldona Kezytė, Leiterin des Pflicht-Klavier-Kursus der Chor­abteilung, zu sich und befahlen ihr eine Eingabe einzureichen, in der sie auf eigenen Wunsch auf ihre Tätigkeit als Lehrerin verzichte. Der Direktor erklärte, an der Arbeit der Lehrerin Aldona Kezytė habe er nichts auszusetzen, doch habe er den Auftrag, sie zu entlassen, da sie religiös sei.

Die Lehrerin A. Kezytė reichte diese Eingabe nach einigen Tagen ein und wurde gezwungen, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Sie hatte in der Schule fast 25 Jahre gearbeitet und war wegen ihres guten Unterrichts von der

Schulleitung mehrmals ausgezeichnet worden. Einige Male erhielt sie sogar von der Regierung eine Anerkennung für ihre gute Arbeit. Bei der Entlassung erklärte die Schulleitung der Lehrerin A. Kezyte, nach ihrer Entlassung dürfe sie die Schule überhaupt nicht mehr betreten.

Užusaliai

An den Kultusminister der Litauischen SSR

An die Redaktion des Tarybinis mokytojas (Sowjetlehrer)

Erklärung

der Bürgerin Irena Smetonienė (Tochter des Jono), med. Feldscher, wohnhaft im Rayon Joava, Gemeinde Užusalia, Bauernschaft Svilonėliai

In der Klasse VIII b der Mittelschule von Karmėlava fand am 14. Februar 1975 eine Klassenversammlung statt. Mein Sohn Antanas hat während dieser Versammlung an „dem süßen Wort Freiheit" Zweifel angemeldet. Er argu­mentierte, daß es diese Freiheit gar nicht gebe.

Anstatt zu beweisen, daß sich das Kind im Irrtum befindet, versicherten die Lehrer und die Schulleitung, er bekäme eine schlechte Charakterbeurteilung und damit seien für ihn alle Wege zu einem höheren Studium und zum weiteren Leben überhaupt abgeschnitten.

 (Die „Chronik der LKK" ist der Meinung, daß die Veröffentlichung des Namens dieses Lehrers vorläufig unzweckmäßig ist.)

Ich besuchte das Gymnasium der Zarenzeit. Die Lehrer versuchten mich zu ihrem Patrioten zu erziehen und schwärzten deshalb den Katholizismus an. Mit dem unkritischen Verstand eines Jugendlichen habe ich damals blind alles angenommen, was mir geboten wurde. Ich schwärmte für die damals modi­schen Ideen des Positivismus, die besagen, real sei nur das, was materiell und greifbar sei. Das Gymnasium verließ ich als überzeugter Materialist und selbstverständlich auch als Atheist. Nachdem der Kanonendonner des Zwei­ten Weltkrieges verstummt war, wählte ich den Lehrerberuf und gab mich ganz der Unterrichtsarbeit hin. 1924 trat ich der neugegründeten „Frei-denkergesellschaft der ethischen Kultur" bei. Unter Schülern und Erwachse­nen verbreitete ich die Ideen des Atheismus und dachte, daß eine der Ur­sachen von Not und Unwissenheit des einfachen Volkes dessen Religiosität sei. Also habe ich die Religion bekämpft.

Später haben mich verschiedene Schicksalsschläge und Prüfungen des Lebens zur Uberprüfung meiner weltanschaulichen Grundposition gezwungen. Der Verstand eines an Jahren Gereiften war von den Eindrücken und Emotionen der Jugendzeit befreit, und deshalb konnte ich jetzt vieles in einem anderen Licht sehen. Mein „Glaube" an den Materialismus geriet ins Wanken: ich er­kannte, daß seine philosophischen Grundlagen zu schwach sind, daß er eine ernstere und befriedigende Antwort auf die wichtigsten Lebensfragen schul­dig bleibt, und daß die Religion etwas ganz anderes ist, als das, was ich aus atheistischen Broschüren kennengelernt hatte. Gott erschien mir als die einzig vernünftige Antwort auf das Problem des Lebens, und ich nahm Abschied vom Atheismus. Diesen Schritt vollzogen viele Menschen meiner Generation, unter ihnen auch der berühmte Professor für Physik, V. Čepinskis. Zu meinem Leidwesen hatte ein Teil meiner Schüler sich meine früheren Ideen angeeignet, von denen ich mich schon losgesagt hatte. Einige von ihnen waren von K. Marx begeistert. Als im Juni 1941 (in Wirklichkeit: 1940; Juni 1941 begann bereits der Krieg zwischen Deutschland und Rußland; Anm. d. Ubers.) die Einheiten der Roten Armee nach Litauen einmarschierten, mußte ich weinen, weil sich an den von Ausländern veranstalteten Demonstrationen auch viele meiner ehemaligen Schüler aktiv beteiligten. Diese jungen Men­schen waren kopflos geworden — sie waren zum Dienst fremder Götter übergegangen. Sie haben auf die Ideale gepfiffen, die mir als Litauer sehr teuer waren und für die ich zur Zarenzeit unter den Gendarmen zu leiden hatte. Da begriff ich, daß meine gesamte freidenkerische Tätigkeit objektiv den Interessen der Feinde Litauens gedient hatte.

Vilnius

Nicht in der Presse veröffentlichen

Erlaß des Gesundheitsministers, Nr. 277, Vilnius, den 17. April 1975

Betrifft die Auflösung des Kinder-TB-Sanatoriums Vilnelė und die Grün­dung einer Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Vilnius.

Unter Ausführung der Beschlüsse des ZK der KP Litauens und des Minister­rats der Litauischen SSR vom 27. Januar 1975 „Wegen Ergänzungsmaßnah­men zur verstärkten Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten" und der An­ordnung Nr. 188 des Ministerrates der Litauischen SSR vom 3. April 1975, befehle ich, im Bestreben die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten zu ver­hindern und die Krankenhausunterbringung der geschlechtskranken Personen zu gewährleisten:

Die im Jahresplan 1975 vorgesehene Anzahl von Betten in den Krankenhäu­sern ist zu vergrößern:

in der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Vilnius um 200 Betten, in der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Kaunas um 100 Betten, in der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Šiauliai um 45 Betten, unter gleichzeitiger Verminderung der Anzahl von Betten in den Republik­krankenhäusern des Ministeriums für Gesundheitsschutz.

Zu vergrößern sind die Haushaltsposten zum Unterhalt der Anstalten für Heilung und Vorbeugung, und zwar:

der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Vilnius um 306 500 Rubel

(davon 165 800 Rubel für Arbeitslohn),

der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Kaunas um 113 300 Rubel (davon 30100 Rubel Arbeitslohn),

der Gesundheitsschutzabteilung der Stadt Šiauliai um 34 200 Rubel