Vilnius

Am 21. Mai 1975 baten der Direktor der Balys-Dvarionas-Kindermusik-schule, Vytautas Kabelis, und der Parteisekretär der Schule, Jonas Urba, die Musiklehrerin Aldona Kezytė, Leiterin des Pflicht-Klavier-Kursus der Chor­abteilung, zu sich und befahlen ihr eine Eingabe einzureichen, in der sie auf eigenen Wunsch auf ihre Tätigkeit als Lehrerin verzichte. Der Direktor erklärte, an der Arbeit der Lehrerin Aldona Kezytė habe er nichts auszusetzen, doch habe er den Auftrag, sie zu entlassen, da sie religiös sei.

Die Lehrerin A. Kezytė reichte diese Eingabe nach einigen Tagen ein und wurde gezwungen, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Sie hatte in der Schule fast 25 Jahre gearbeitet und war wegen ihres guten Unterrichts von der

Schulleitung mehrmals ausgezeichnet worden. Einige Male erhielt sie sogar von der Regierung eine Anerkennung für ihre gute Arbeit. Bei der Entlassung erklärte die Schulleitung der Lehrerin A. Kezyte, nach ihrer Entlassung dürfe sie die Schule überhaupt nicht mehr betreten.

Užusaliai

An den Kultusminister der Litauischen SSR

An die Redaktion des Tarybinis mokytojas (Sowjetlehrer)

Erklärung

der Bürgerin Irena Smetonienė (Tochter des Jono), med. Feldscher, wohnhaft im Rayon Joava, Gemeinde Užusalia, Bauernschaft Svilonėliai

In der Klasse VIII b der Mittelschule von Karmėlava fand am 14. Februar 1975 eine Klassenversammlung statt. Mein Sohn Antanas hat während dieser Versammlung an „dem süßen Wort Freiheit" Zweifel angemeldet. Er argu­mentierte, daß es diese Freiheit gar nicht gebe.

Anstatt zu beweisen, daß sich das Kind im Irrtum befindet, versicherten die Lehrer und die Schulleitung, er bekäme eine schlechte Charakterbeurteilung und damit seien für ihn alle Wege zu einem höheren Studium und zum weiteren Leben überhaupt abgeschnitten.

Die Direktorin schloß das Kind in ihrem Amtszimmer ein und verlangte, es solle eine Erklärung schreiben. Mein Sohn lehnte ohne Wissen der Eltern jedwedes Schreiben ab. Daraufhin wählte die Direktorin eine Telefonnum­mer und drohte, sie werde die Miliz oder den Sicherheitsdienst mit Gummi­knüppeln anfordern. Das verängstigte Kind schrieb dann die „Erklärung", die die Direktorin diktierte. Einige Freunde von Antanas wurden ebenfalls zum Amtszimmer der Direktorin zitiert, mußten etwas schreiben und ver­ließen das Amtszimmer verängstigt und unter Tränen.

Bei seinem Besuch in der Schule konnte der Vater nicht erfahren, was im Amtszimmer der Direktorin vorgegangen war.

Nach dem zweiten Trimester wurde meinem Sohn in Anwesenheit der ganzen Schule eine strenge Verwarnung „wegen Verbreitung von reaktionärer Ge­sinnung in der VIII. Klasse" ausgesprochen.

Meine Tochter Gražina besucht die VI. Klasse der gleichen Schule. Sie gehört zum Literaturzirkel und zu den Gesellschaftskundlern und hat, wie auch mein Sohn, überdurchschnittlich gute Leistungsnoten. Bis jetzt hat sie noch in keiner Versammlung eine „herätische" Frage gestellt. (Nach den Schwierig­keiten ihres Bruders bezweifle ich, ob sie aufrecht und tapfer bleibt, denn die

Schule sagt, daß gute Charakterbeurteilung und offene Wege ins Leben nur für Duckmäuser, Schlauberger und Feiglinge frei sind.) Obschon das Benehmen des Mädchens einwandfrei war, hat man am Schluß des zweiten Trimesters ihr Betragen nicht als vorbildlich gewürdigt. Zum Anlaß des 8. März hat man den Müttern guter Kinder gratuliert. Einige Schüler der VI. Klasse fragten empört, warum Frau Smetonienė übergangen werde? Die Klassenleiterin, Lehrerin Bakšienė, erklärte, das habe seinen Grund „in gewissen Ursachen". Sie hätte zwar gegen Gražiana nichts einzu­wenden, aber das Lehrerkollegium lehne es ab, ihr Betragen als vorbildlich zu bewerten. Nachher erzählte die Klassenlehrerin, daß man das Betragen eines Knaben immer als vorbildlich gewertet hätte, daß dieser aber ins Prie­sterseminar eingetreten sei und der Schule damit große Unannehmlichkeiten bereitet hätte.

Am 3. April bin ich selbst in die Schule gegangen, um die Sache zu klären, aber es ist mir nicht gelungen. Die Schulleitung meint, sie handele korrekt und mein Sohn sei ein Missetäter.

Ich bitte um Klarstellung für uns alle, die Eltern, die Lehrer und insbesondere die Kinder — wer von uns im Irrtum ist?

N. B.: Mein Mann und ich waren in Verbannung. Unsere Kinder sind in Sibirien geboren. Dies alles vor den Kindern zu verheimlichen wollen und können wir nicht, denn wir meinen, daß Lüge oder Verheimlichung unpäd­agogisch sind.

Die Schule müßte um so zarter auf jede Frage unserer Kinder reagieren. Aber leider werden unserer Kinder wegen ihrer Offenheit bestraft und einge­schüchtert. Die Klassenkameraden von Antanas wurden gezwungen, ihn zu denunzieren...

Furcht, Unterdrückung und Verdunkelung werden die heutige Freiheit nicht beweisen.

den 7. April 1975                                                         Irena Smetoniene

(Direktorin der Mittelschule von Karmėlava — Gečiauskienė, Klassenlehre­rin von VIII b. — Apraksina)

Das Kultusministerium der Litauischen SSR leitete die Beschwerde von Frau I. Smetonienė an den Abteilungsleiter der Volksschulbildung im Rayon Kaunas, K. Švedas, weiter, um die in der Erklärung von Frau I. Smetonienė erwähnten Tatbestände zu prüfen. Wir bringen die Ergebnisse dieser Unter­suchung:

An die Schulverwaltung des Kultusministeriums der Litauischen SSR Abschrift: An Frau I. Smetonienė, Kaunas, Laisvės al. 19,1. Klinisches Kran­kenhaus von Kaunas.

Die Abteilung für Volksschulbildung im Rayon Kaunas stellte nach Unter­suchung der von Bürgerin I. Smetonienė an das Kultusministerium der Litau­ischen SSR geschriebenen Erklärung und den dort hervorgehobenen Tatbe­ständen über unzulässige Behandlung ihres Sohnes Antanas und ihrer Tochter Gražina durch die Schulleitung der Mittelschule von Karmėlava fest, daß diese Tatbestände nicht der Wahrheit entsprechen. Die Schule organisiert zu Recht die kommunistische Erziehung der Schüler, aber die Bürgerin I. Smeto­nienė beeinflußt ihre Kinder zu Hause in entgegengesetzter Richtung, und die Kinder, besonders ihr Sohn Antanas, sprechen diese gegensätzlichen Ge­danken im Schülerkollektiv aus. Durch Untersuchung wurde festgestellt, daß die Schulleitung gegenüber ihrem Sohn Antanas und gegenüber anderen Schü­lern keine Gewalt angewandt hat. Die Schule wurde beauftragt, mit Hilfe der Mitarbeiter des Exekutivkomitees des Deputiertenrates der Arbeitenden Menschen der Gemeinde und der Vertreter von öffentlichen Organisationen die Bürgerin I. Smetonienė über ihre ungehörige Erziehung der Kinder auf­zuklären und dahingehend zu beeinflussen, daß sie die Schule nicht behin­dern dürfe, die Schüler kommunistisch zu erziehen.

den 30. April 1975

Abteilungsleiter der Volksschulbildung im Rayon Kaunas, K. Svedas

Debeikiai

Am 13. April 1975 kam bei einem Autounfall der Schüler der 10. Klasse der Mittelschule von Debeikiai, Antanas Tamošaitis, ums Leben. Er wohnte im Rayon Anykščiai, Bauernschaft Ivoniai.

Am 14. April stattete die Parteisekretärin der Schule, Lehrerin Aldona Sta­liauskiene, den Eltern einen Besuch ab und erklärte, wenn Antanas kirchlich beerdigt werde, dann würde sie die Bänder von den Kränzen herunterreißen und jegliche Hilfe verweigern, auch die Transportmittel. Die Mutter war da­mit nicht einverstanden.

Am 15. April hielten die Schüler der 10. Klasse bei dem toten Kameraden Wache. Da erschien die Lehrerin A. Staliauskienė, riß die Bänder von den Kränzen herunter und warf sie zerknüllt in die Ecke. Die Mädchen weinten. Kurz darauf kam auch der Kolchosvorsteher Kazimieras Šinkūnas. Dieser und Aldona Staliauskienė nahmen sich in einem verschlossenen Zimmer die Mutter vor, deren Mann gestorben ist, und schärften ihr unter Drohungen und Zureden ein, daß sie auf die kirchliche Beerdigung ihres Sohnes verzich­ten solle. Die Lehrerin Staliauskienė wurde wegen der Beerdigung von der Parteisekretärin des Rayons Anykščiai, Zinaida Barkauskienė, beraten. Die Mutter konnte dem Druck nicht standhalten und gab nach. Der Sarg wurde zur Schule gebracht und ihr Sohn ohne Mitwirkung der Kirche beerdigt.

Varena

Am 7. Mai 1975 machte der Direktor der Mittelschule von Varėna, Vaitie-kūnas, der Frau Stefa Verseckienė Vorwürfe darüber, daß ihr Sohn Jonukas, Schüler der IV. Klasse, die Kirche besuche und bei der Messe ministriere. Wenn er damit nicht aufhöre, würde man über ihn beraten und ihm in Ge­genwart der ganzen Schule eine Rüge erteilen. Frau Verseckienė erklärte, sie freue sich, daß sich ihr Sohn nicht auf der Straße herumtreibe, sondern in die Kirche gehe.

„Wenn du dein Kind nicht zu erziehen vermagst, bringen wir es in die Ko­lonie", drohte der Direktor.

„Was lehrt denn der Priester Schlechtes?" fragte die Mutter. „Alle Priester sind Säufer, Unzüchtige, Müßiggänger und Räuber. Und du gestattest deinem Kind, zu solchen zu gehen. Du gestattest, daß dein Kind vor Götzen auf den Knien rutscht. Was bist du für eine Mutter? Dir werden wir noch die Mutterrechte entziehen", schrie der Direktor. Frau Verseckienė hat drei kleine Kinder zu Grabe getragen, ist selbst herz­krank und erwartet jeden Tag die Nachricht vom Tode ihres Mannes, der sich einer Herzoperation unterziehen mußte. Sie konnte sich kaum noch nach Hause schleppen und erlitt in der Nacht einen Herzanfall. So wird die „indi­viduelle Aufklärungsarbeit an den Gläubigen" betrieben.

Am 13. Juni 1975 wurde in Varėna der Vater von drei Kindern, Kavaliaus-kas, beerdigt. An der Beerdigung nahmen auch die Schüler teil, angeführt von drei Lehrern. Als der Trauerzug den Friedhof erreicht hatte, mußten die Schüler hinter dem Tor zurückbleiben, und erst nachdem der Priester die Begräbniszeremonien vollzogen und weggegangen war, gestattete man den Schülern die Niederlegung von Kränzen am aufgehäuften Grabhügel. So wird „Gewissens- und Kultfreiheit" gehandhabt.

Bagaslaviškis

Die Mittelschullehrerin Sidlauskiene beschimpfte den Schüler Strazdas, weil er am 16. März zur Kirche gegangen war und dadurch der Schule eine große Schande bereitet habe. Der Schüler wurde gewarnt, er solle nicht mehr zur Kirche gehen und entweder die Kirche oder die Schule wählen. Auch anderen Schülern hat die Lehrerin Sidlauskiene verboten am Osterfest zur Kirche zu gehen, denn dadurch würden sie der Schule und den Lehrern große Schande bereiten und ihren eigenen Eintritt in die höheren Schulen erschweren. Trotz aller Verbote haben sehr viele Schüler am Osterfest den Gottesdienst besucht.

Gudžiūnai

Im Jahre 1975 wurde die Betragensnote der Schülerin Eugenija Venskaus-kienė der achten Klasse der Mittelschule von Gudžiūnai (Rayon Kėdainiai) auf befriedigend herabgesetzt, weil sie sich in der Fastenzeit geweigert hatte, in der Schule Tanzvergnügungen zu veranstalten und selbst daran teilzunehmen.