(Ein Aufruf an die Bewegung zur Umgestaltung)

Wir, die um die Umgestaltung der Gesellschaft besorgten Katholiken, wol­len die Aufmerksamkeit der Bewegung darauf lenken, daß die Demokrati­sierung solange unmöglich ist, solange die Rechte der gläubigen Bürger nicht den Rechten der anderen Bürger entsprechen und solange nicht alles Notwendige getan wird, um diese Gleichheit und eine allseitige Gewissens­freiheit garantieren zu können.

I. Gleichheit der Rechte

Sowohl die frühere stalinistische Verfassung der UdSSR (Art. 124), als auch die jetzt gültige von Breschnew (Art. 52) legen beide eine prinzipielle Ungleichheit zwischen Gläubigen und Ungläubigen fest: Sie garantieren den Ungläubigen das Recht, ihre Überzeugungen zu verbreiten - atheisti­sche Propaganda zu betreiben, den Gläubigen aber nur, religiöse Kulthand­lungen auszuüben, doch nicht ihre Anschauungen zu verbreiten. Die die Religion betreffende Gesetzgebung ist äußerst restriktiv, alle Massenme­dien aber sind verpflichtet, den Atheismus zu verbreiten. Sogar das Recht, an religiösen Kulthandlungen teilzunehmen, ist oft den Bürgern vieler Gesellschaftsschichten untersagt, was besonders die Intelligenz und die studierende und schulpflichtige Jugend betrifft.

Die Befürworter der Demokratisierung der Gesellschaft sollten danach streben, daß die Verfassung allen Bürgern das Recht garantiert, ihre Anschauungen (religiöse ebenso wie auch atheistische) zu bekennen und sie frei zu verbreiten und zu verteidigen, aber auch die gleichen Rechte für die Benützung der Massenmedien sichert. Die atheistische Propaganda sollten die Atheisten aus eigener Tasche finanzieren, nicht der Staat, denn die Mittel für den Staat müssen die Gläubigen wie auch die den Glauben befürwortenden Bürger verdienen, die in unserer Republik die Mehrheit ausmachen.

2. Der Staat - die Kirche - die Schule

Artikel 52 der oben erwähnten gültigen Verfassung besagt, daß „in der UdSSR die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt sind". Die Logik und die Gerechtigkeit verlangen in diesem Falle, daß die Tren­nung in beiden Fällen dasselbe bedeuten soll. So, wie es der Kirche nicht erlaubt wird, sich in die innere Sphäre der Schule einzumischen - in die Ernennung der Lehrkräfte, Lehrerorganisationen, so müßte auch der Staat auf die Ernennung der Geistlichen (z. B. unter dem Vorwand der Anmel­dung), auf Vorbereitungen der kirchlichen Feierlichkeiten, auf die Auswahl der Kandidaten für das Priesterseminar usw. verzichten. Der Staat dürfte den religiösen Gemeinschaften keine Struktur weltlicher Organisationen aufzwingen (Zwanzigerräte und ihre Exekutivkomitees, die höher gestellt werden als die hierarchischen Organe). Und schließlich, ungeachtet der Trennung der Kirche von Staat, genauso, wie von den Gläubigen und der kirchlichen Obrigkeit die größte Loyalität hinsichtlich der Tätigkeit des Staates gefordert wird, so müßte auch die Trennung der Schule von der Kirche nicht als eine Verpflichtung der Schule, gegen die Religion und die Kirche zu kämpfen, interpretiert werden.

Leider wurde bis jetzt Artikel 52 der Verfassung nur so interpretiert. Schon nach Anlauf der Umgestaltung im Mai dieses Jahres verjagte der Direktor der Mittelschule von Salininkai im Rayon Vilnius den Priester vom Fried­hof, als er auf Einladung der Eltern eine bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommene Schülerin nach kirchlichem Ritus beerdigen wollte. Sogar die Zeitschrift „Gimtasis kraštas" („Heimatland"), die als Befürworter der Umgestaltung gilt, bestritt es, daß Schüler im Internat das Recht hät­ten, am Hl. Abend die Plotkelė* zu brechen und miteinander zu essen (vergl. Nr. 23 [1108], Vilnius, 2.-8. Juni 1988).

Das Gewissen der Erzieher wird schon seit einigen Jahrzehnten genötigt, wenn sie gezwungen werden, sich an antireligiösen Tätigkeiten zu beteili­gen und das öffentlich zu verhöhnen und zu zerstören, was ihnen selber heilig ist.

 

3. Die allgemeine antireligiöse Einstellung

Es sind neue Vorschriften über die Tätigkeit der religiösen Gemeinschaften versprochen. Der Entwurf dieser Vorschriften sollte der Öffentlichkeit zur Beurteilung freigegeben werden. Es müßte außerdem auf alle bis jetzt gültigen prinzipiellen Neigungen verzichtet werden, alle diese Vorschriften und Verordnungen nur zu Ungunsten der Kirche auszulegen, mit dem Endziel, zuerst den Einfluß der Kirche auf die Gesellschaft einzuschränken und ihn später vollkommen zu beseitigen.

* Plotkele (die) - eine geweihte Oblate, die am Hl. Abend in Litauen als Zeichen der Verbundenheit und Liebe unter Angehörigen einer Familie oder Gemeinschaft gebrochen und gegessen wird.

Der Vorsitzende des Rates für Religionsangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR, Chartschew, hat vor einem Korrespondenten der Zeitschrift „Ogonjok" entschieden erklärt, daß es dem Geist der Perestroika wider­spricht, die Gläubigen als „Bürger zweiter Klasse" zu betrachten. (Gab also zu, daß es eine derartige Anschauung gegeben hat.) Die Vertreter dieses

Rates in unserer Republik befürworten jedoch bis jetzt diese ungerechten Einschränkungen: Die Gesetze erlauben religiöse Beerdigungszeremonien in Einrichtungen der Feuerbestattung (Krematorien), in Litauen sind sie in ähnlichen Einrichtungen (z.B. Aufbahrungsräumen) aber verboten. Zahl­reiche Betriebe oder Organisationen verweigern ihren Mitgliedern bei ihrer Beerdigung jegliche Hilfe, wenn diese mit religiösen Zeremonien vollzogen wird, die Vertreter des RfR schreiten aber dagegen nicht ein.

4. Die Gewissensfreiheit und die unfreiwilligen Förderer des Atheismus

Das Programm und die Satzungen der KPdSU und das Statut der VLKJS schränken durch die Verpflichtung aller Mitglieder ihrer Organisation, gegen die Religion zu kämpfen, die politischen Rechte der gläubigen Bür­ger ein, die ihnen durch die Artikel 48 und 51 der Verfassung garantiert sind, und nötigen ihr Gewissen. Wenn ein Gläubiger sich entschließt, Mit­glied der KPdSU oder VLKJS zu werden, muß er entweder seinem Gewis­sen widersprechende Verpflichtungen auf sich nehmen und sie erfüllen, oder muß er heucheln, oder er kann eben keiner dieser Organisationen angehören, die eine entscheidende Stimme bei staatlichen oder gesell­schaftlichen Angelegenheiten haben. Die neue Bestimmung, daß nur der erste Sekretär des Parteikomitees der Vorsitzende eines entsprechenden Rates der Deputierten der Werktätigen werden kann, versperrt einem Gläubigen jede Möglichkeit, diesen Posten zu übernehmen, wenn er nicht heucheln will. Es bleibt ihm also wiederum nur die Wahl, entweder gegen sein eigenes Gewissen zu handeln, oder die Diskriminierung. Die einzige legale Partei im ganzen Lande und die einzige legale Massenvereinigung sollten hinsichtlich der Religion neutral sein, damit Bürger verschiedener Überzeugungen ihnen angehören können. Solange das nicht geschieht, sollte man im Laufe der Umgestaltung den Gläubigen, die unter Druck oder durch Mißverständnisse diesen Organisationen beigetreten sind, anbieten, aus diesen Organisationen auszutreten, mit der rechtlichen und faktischen Garantie, daß dies für sie keine negativen sozialen Auswirkun­gen haben wird.

Wir bitten die Bewegung der Umgestaltung sehr, den offiziellen Instanzen und der Öffentlichkeit zu erklären, daß die gläubigen Bürger sich erst dann voll mit ganzem Herzen für die Umgestaltung und Erneuerung einsetzen können, wenn sie sich überzeugt haben, daß sie wirklich und unwider­ruflich keine „Bürger zweiter Klasse", sondern gleichberechtigte, vollwer­tige Bürger sind. Das werden wir aus den entsprechenden rechtlichen Handlungen, hauptsächlich aber aus der alltäglichen Praxis ersehen kön­nen. Einige Beispiele:

Wenn die Hauptkirche Litauens, die Kathedrale von Vilnius, den religiösen Kulten wieder zugeführt wird und wenn es erlaubt wird, neue Kirchen dort zu errichten, wo die Gläubigen sie benötigen;

wenn das Atheistische Museum aus der Kirche des Schutzpatrons Litau­ens, der St. Casimir-Kirche, ausquartiert und die Profanierung dieses kost­baren Heiligtums beendet wird;

wenn die religiösen Gemeinschaften die Rechte einer juristischen Person und die kirchlichen Zentren die Publikationsrechte bekommen;

wenn das Verbot, die Kinder und die Jugendlichen in Sachen des Glaubens zu unterrichten, aufgehoben wird;

wenn uns erlaubt wird, kirchliche Abstinenz-, Wöhltätigkeitsvereine und Bruderschaften wie auch ähnliche Verbände zu gründen und sich darin zu betätigen;

wenn die Tätigkeit des Rates für Religionsangelegenheiten so umorgani­siert wird, daß sie kein Werkzeug der Versklavung der Kirche wird;

wenn man aufhört, die Religion und die Kirche in den Schulen und in den Massenmedien systematisch herabzuwürdigen;

wenn niemand auf irgendeine Weise gezwungen wird, gegen sein eigenes Gewissen zu reden und zu handeln, und wenn die religiöse Praxis kein Hindernis für einen Aufstieg im Beruf, in der Wissenschaft und in der kulturellen Tätigkeit mehr ist.

Wir möchten, daß über diesen Aufruf auch breite Schichten der litauischen Gesellschaft unterrichtet werden.

Julija Šalkauskienė,

Künstlerin (Witwe des Prof. Šalkauskis)

Vilnius, K. Požėlos g. 20-7 Alfonsas Misevičius,

Jurist

Vilnius, Baltupio 55-40 Antane Kučinskaitė,

Sprachwissenschaftlerin

Vilnius, Lenino pr. 2-20 Vincas Rastenis,

Arzt

Vilnius, Architektų 36-24 Povilas Varnelė, Ingenieur

Vilnius, Vykinto 7-1