Vom 19. bis 26. Dezember 1973 wurde im Volksgerichtshof des Leninbezirks von Vilnius der Kriminalprozeß gegen „die Defraudanten von Staatseigentum" durchgeführt. Die Prozeßleitung hatte der Volksrichter Stankevičius.
Der Staatsanwalt Dedinas beschuldigte im Anklagebeschluß, dessen Verlesung etwa drei Stunden dauerte, den Angeklagten Antanas Terleckas auf Grund der Absätze 160, 157 und 94 im zweiten Teil des § 6 der Verfassung der Litauischen SSR. Im zweiten Teil des letzten Absatzes ist von Gruppenvergehen die Rede, obwohl auf der Anklagebank bloß einer saß, eben A. Terleckas. Aus dem Anklagebeschluß ging hervor, daß A. Terleckas akademische Bildung hat, er ist Dipl.-Volkswirt. Daneben hat er Geschichte studiert. 1958 erhielt er eine Vorstrafe nach Absatz 58 § 6 wegen politischer Vergehen. Man sagt, Terleckas sei das gewesen, was in den Augen sowjetischer Behörden ein „Staubkorn" ist und man habe ihm das heimzahlen wollen. Der Ablauf des Prozesses bestätigte das zur Gänze. Seite 1972 arbeitete Terleckas in einer Backwarenfabrik, die sich unter Leitung des städtischen Trusts der Speisehäuser und Restaurants befand. Vom Herbst 1972 bis zum Frühjahr 1973 war er Leiter des Unternehmens, danach arbeitete er bis zum 24. Mai als Stapler im Rohstofflager eben dieses Betriebes. Am 24. Mai wurde er verhaftet. Nach der Verhaftung erfolgte in seiner Wohnung eine Haussuchung zwecks Klärung der ihm vorgeworfenen Vergehen — der Veruntreuung von Staatseigentum. Merkwürdig nur, bei der Haussuchung wurden die Zeitschriften N. Romuva, Musu Vilnius u. a. beschlagnahmt. Was haben diese mit Brötchen zu tun? Statt die wirklichen Veruntreuer ausfindig zu machen, wandte der Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung unerlaubte Verfahren an, um von den Zeugen die gewünschten, wenn auch unwahren Aussagen zu erhalten, die A. Terleckas belasteten. Terleckas aber, den man zwingen wollte, ein falsches Protokoll zu unterschreiben, verlangte, daß der Staatsanwalt vorgeladen werde. Um A. Terleckas zu brechen, griffen die Ermittler zum letzten Mittel, sie setzten ihn in die am Stadtgefängnis von Vilnius „Lukiškiai" bestehende psychiatrische Klinik.
Am 19. Dezember 1973 kündigt das Gericht an: Kriminalprozeß «Defraudan ten staatlichen Eigentums". Der Volksrichter Stankiavičius war wiederholt inobjektiv: bei der Befragung der Zeugen „bedrückte" er sie so, daß sie in dem von ihm gewünschten Sinne antworteten; wenn eine Aussage ihm nicht gefiel, überschüttete er sie mit Fragen und wurde ironisch; wenn aber der Zeuge bei der Belastung des Angeklagten log und sich dabei verwirrte, reagierte der Volksrichter darauf nicht oder bewahrte Schweigen. Das Beweismaterial umfaßte sieben Bände.
Der Ton des Anklägers war sehr hart, die vorgebrachten Anklagen mühsam: A. Terleckas befaßte sich mit der Unterschlagung von Produkten für Konditorwaren vom Lager — von Butter, Zucker, Salz, Eiern u. a. m. Auf Weisung des Angeklagten mußten die Bäckerinnen minderwertige Ware ausliefern, die Lieferwagenfahrer die Fertigprodukte ohne Begleitpapiere zustellen und das überzählige Geld dem A. Terleckas abliefern. Der Prozeß erwies etwas anderes: zwischen dem 23. und 25. Mai 1973 waren von Mitarbeitern des OBCHS (Abteilung zur Bekämpfung der Veruntreuung sozialistischen Eigentums) der Verkaufsfahrer Geic und Svirskij angehalten worden, die die Fertigprodukte an die Bestimmungspunkte auszufahren hatten. Als man bei ihnen die Begleitpapiere prüfte, stellte es sich heraus, daß sie für einen Teil der Ware keine Papiere hatten. Es erwies sich, daß sie die unbegleitete Ware als überzählige zu eigenem Nutzen verkauften. Allein, auf Grund irgendeines „glücklichen" Zufalls erwiesen sich Geic und Svirskij als völlig unschuldig (sie wurden nur beim Handelsgericht angeklagt) und, indem sie alle Schuld auf Terleckas abwälzten, avancierten sie sogar zu Hauptbelastungszeugen gegen Terleckas. Die Befragung der Zeugen ergab, daß das Manko im Lager allein durch Mängel in der Buchhaltung entstanden war, auf die niemand seit Gründung des Unternehmens, also seit 10 Jahren geachtet hatte. Und kein Leiter wurde dafür zur Verantwortung gezogen, außer A. Terleckas, der in dieser Stellung kaum einige Monate tätig gewesen war. Für die auszuliefernde Ware und deren Qualität sind allein die Bäcker-brigadiere verantwortlich und nicht der Lagerarbeiter A. Terleckas. Deshalb wurde die Anschuldigung in diesem Punkt im Weiteren fallengelassen. Auch die Anschuldigung nach Absatz 94, Zif. 2 (Gruppenvergehen), die allein durch die mündlichen Aussagen von Geic und Svirskij gestützt wurde, konnte keine wesentliche Bedeutung füreinen Schuldspruch des A. Terleckas haben. Diese Zeugen hätten selbst auf der Anklagebank sitzen müssen. Wenn sie sprachen, verwirrten sie sich, stotterten, wurden rot, widersprachen soeben von ihnen selbst gemachten Aussagen; zum Schluß verstummte Svirskij gänzlich, weil er auf die Fragen des Anwalts nichts zu antworten vermochte. Als Svirskij angehalten wurde, fanden sich bei ihm auch andere Lebensmittel ohne Begleitpapiere, z. B. Wurst, die es in ihrem Betrieb überhaupt nicht gibt. Außerdem transportierten die Ausfahrer auch an anderer Stelle empfangene Konditorware nach gleicher Rezeptur und mit gleicher Bezeichnung. Deshalb war es unmöglich festzustellen, ob die bei der Kontrolle vorgefundene Konditorware tatsächlich aus dem Werk stammte, in dem Terleckas arbeitete. Das bestätigte in ihrer Aussage die Leiterin des Laboratoriums, in dem die chemische Analyse dieser Erzeugnisse vorgenommen worden war.
Ungeachtet dessen, daß nach der Zeugenbefragung die Unschuld des A. Terleckas völlig auf der Hand lag, was sogar der Staatsanwalt zugab, indem er auf viele Anklagepunkte verzichtete, verlangte er auf Grund der (keineswegs überzeugenden) Aussagen von Geic und Svirskij vier Jahre Freiheitsentzug mit Verwahrung in Strafanstalten mit „strengem Regime". Als der Staatsanwalt seine erzwungene Anklagerede gehalten hatte, replizierte der Verteidiger Kovarskis: Ob die Worte von Geic und Svirskij denn wirklich unfehlbar seien, wie das Wort Gottes, daß man ihnen derart glauben müsse, insbesondere da sie selber auf der Anklagebank sitzen müßten. Als sie dem Gericht bekannten, daß sie an den Vergehen des A. Terleckas teilgenommen hätten, riskierten sie nichts, da ihnen dies nicht als Schuld angelastet wurde und jetzt drohe ihnen überhaupt nichts mehr. Warum habe man die Aussagen der anderen Zeugen überhaupt nicht berücksichtigt. Am 26. Dezember 1973, also nach viertägiger Pause, die man nach Beendigung des Prozesses eingelegt hatte, verkündigte der Volksrichter Stankevičius das Urteil: ein Jahr Freiheitsentzug unter den Bedingungen des strengen Regimes unter Anrechnung der Zeit seit der Verhaftung. Mit dem Hinweis, daß die Strafe strenger hätte sein müssen, weil es sich um einen zweiten Straffall handelte, erklärte der Volksrichter, daß sie aus Überlegungen der „Humanität" gemildert worden sei (und das in bezug auf einen unschuldigen Menschen!), da der Angeklagte bei schlechter Gesundheit und zu Hause eine tragische Situation entstanden sei: die Frau krank und drei minderjährige Kinder.
So also wird das sowjetische Gericht mißbraucht, für Auseinandersetzungen mit Personen, die den Organen des Staatssicherheitsdienstes nicht gefallen.